Ein Schmelzwasserbach auf dem Russell-Gletscher in Westgrönland.
Foto: Coen Hofstede

Grönlands Eisverlust: höhere Dynamik als vermutet

19.01.2024

Fast alle Gletscher in Grönland sind sich in den vergangenen Jahrzehnten geschrumpft, haben Forscher festgestellt. Auf der größten Insel der Welt sind in den vergangenen vier Jahrzehnten mehr als 5000 Quadratkilometer Eismasse verloren gegangen, stellen sie in ihrer aktuellen Studie fest. Das entspricht der doppelten Fläche Luxemburgs.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die derzeitigen Konsensschätzungen der Massenbilanz des Eisschildes den jüngsten Massenverlust Grönlands um bis zu 20 Prozent unterschätzt haben“, schreiben die Forscher des California Institute for Technology in Pasadena in ihrer aktuellen Studie. Das bedeutet, dass der grönländische Eisschild mehr Eismasse verloren hat, als die Wissenschaft bisher angenommen hat.

Zu verdanken sind die neuen Erkenntnisse, den ganzjährige Aufnahmen von Satelliten, die mittels Radar die Gletscher „vermessen“. Für ihre Studie kombinierten die Forscher rund 237.000 manuell und von KI abgeleitete Beobachtungen von Gletschern bzw. Gletscherzungen, die ins Meer ragen (sogenannte Kalbungsfronten). Die gewonnenen Daten kombinierten sie mit Eismodellen. Anschließend erstellten sie eine Maske mit einer Auflösung von 120 m, die die Ausdehnung des Eisschildes monatlich über vier Jahrzehnte (1985-2022) abbildet.

Drastisches Abschmelzen

Die Methode hat den Vorteil, dass sie nicht nur der Rückzug einzelner Gletscher, sondern den gesamten grönländischen Eisschild in den Blick nimmt. Die Autoren zeigen, dass der grönländische Eisschild seit 1985 um 5.091 km2 abgeschmolzen ist. Dies entspricht einem Verlust von rund 1000 Gigatonnen (Gt) Gletschereis. Auf saisonalen Zeitskalen verliert Grönland jedes Jahr 193 km2 (= 63 Gt) an Eis.

„Die neue Studie trägt zum Verständnis der Dynamik des Eisschildes bei. Sie zeigt, dass die Schmelzproduktion und die Geschwindigkeit der Gletscher seit den 2000er Jahren drastisch zugenommen haben“, kommentierte der Glaziologe Ingo Sasgen vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven die Ergebnisse seiner Kollegen in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Golfstrom im Fokus

Nun hat, wie die Forscher hinweisen, der der von ihnen ermittelte Massenverlust nur minimale direkte Auswirkungen auf den globalen Meeresspiegel. Der Verlust reiche aber aus, um die Ozeanzirkulation und die Verteilung der Wärmeenergie rund um den Globus zu beeinflussen.

Unter anderem steht hier der Golfstrom im Fokus, der in den Nordatlantik fließt. Er ist Teil des „globalen Förderbands“, das als Tiefenströmung das Klima in Europa beeinflusst. Durch Süßwassereinträge, Störung des Salzgehalts und des Temperaturgleichgewichts im Ozean hat sich seine Fließgeschwindigkeit inzwischen verlangsamt.

Irgendwann könnte der Zeitpunkt kommen, an dem das Strömungssystem kippt. Wo genau er liegt, wisse man nicht, sagt Ingo Sasgen. Denn dafür sei eine komplexe Modellierung nötig, die alle Komponenten des Erdsystems berücksichtigen müsste: Atmosphäre, Meereis, Ozeanströmungen, Ozeanwirbel und küstennahe Strömungen. Das sei derzeit nicht möglich.

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