Das Protein Coronin-1 sorgt dafür, dass die T-Zellen unseres Immunsystem lange Zeit überleben, fanden Wissenschaftler an der Uni Basel heraus.
Eine elektronenmikroskopische Aufnahme von T-Zellen.
Foto: Nano Imaging Lab SNI/Biozentrum, Universität Basel

MS-Therapie mit Stammzellen

31.12.2022

Um MS-Patienten zu heilen, experimentieren Forscher seit einiger Zeit mit der Transplantation von Blutstammzellen. Schweizer Wissenschaftler haben in einer Studie die Wirkung dieser neuartigen Therapieform erforscht: Nicht nur, dass 80 Prozent der Patienten lange Zeit krankheitsfrei bleiben. Bei der Prägung der neugebildeten Immunzellen spielt die Thymusdrüse eine besondere Rolle.

Bei Multipler Sklerose (MS) greifen körpereigene Immunzellen die Myelinscheide, also die elektrische Isolationsschicht der Nervenfasern in Gehirn und Rückenmark an. Die Entzündungsreaktion führt dazu, dass Nervenzellen und -bahnen stark beschädigt und schließlich zerstört werden. Bei diesem Vorgang, der schubweise stattfindet, spielen die weißen Blutkörperchen, und hier vor allem die B- und T-Lymphozyten eine große Rolle. Die körperlichen Auswirkungen reichen von Seh- über Empfindungsstörungen bis zu Gehbehinderungen und Lähmungen.

In der Vergangenheit war das entzündungshemmende Medikament Cortison das Mittel der Wahl, um diese Autoimmunkrankheit zu bekämpfen. Später kam Interferon beta dazu. Diese Präparate konnten allerdings das Fortschreiten der Krankheit nicht aufhalten. Mittlerweile existieren Medikamente, die B- und T-Lymphozyten angreifen und verhindern, dass die Entzündung fortschreitet. Allerdings wird damit auch das Immunsystem der Patienten geschwächt.

Stammzelltransplantation

Seit den 1990er Jahren wird die Stammzelltransplantation als Behandlungsmöglichkeit für MS-Patienten erforscht. Üblicherweise wird sie bei der Therapie von Blutkrebs angewendet, inzwischen erfolgreich auch bei MS. Diese Therapieform, bei der körpereigene Stammzellen zur Wiederbelebung des Immunsystems verwendet werden, ist nach Ansicht von Experten besonders geeignet für jüngere Menschen mit aggressiven Krankheitsverlauf.

Bei der Behandlung werden den MS-Patienten zuvor deren Blutstammzellen entnommen. In einem zweiten Schritt wird deren Immunsystem (durch Bestrahlung oder Chemotherapie) inklusive der T-Zellen komplett zerstört. Im dritten Schritt erhalten sie über eine Infusion die eigenen Stammzellen wieder in ihren Blutkreislauf zurück. Aus diesen entwickelt sich in den nächsten Monaten und Jahren ein neues Immunsystem, das keine aggressiven T-Zellen mehr enthält.

Thymusdrüse „bildet“ T-Zellen aus

Um herauszufinden, warum die Stammzelltransplantation so effektiv ist und wie sich das Immunsystem regeneriert, hat ein Team der Abteilung Neurotechnologie und MS der Universität Zürich und des Universitätsspitals Zürich die Immunzellen von 27 MS-Patienten analysiert, die zuvor eine Stammzelltherapie erhalten hatten.

„Achtzig Prozent der Behandelten bleiben nach einer sogenannten autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation lange Zeit oder für immer krankheitsfrei“, berichtet Studienleiter Prof. Roland Martin.

Zum Erstaunen der Forscher nahm die Thymusdrüse, die im Erwachsenenleben inaktiv ist, ihre Arbeit wieder auf. Die neugebildeten T-Zellen gingen dort zur Schule (T= Thymus) und lernten, körpereigene von fremden Strukturen oder Krankheitserregern zu unterscheiden. In diesem Organ, das sich hinter dem Brustbein befindet, reift also das neue Abwehrrepertoire des Köpers heran.

Phase-3-Studien fehlen

Bei Ihren Analysen stellten die Wissenschaftler fest, das auch T-Zellen auftauchten, die die Chemotherapie überlebt hatten. Glücklicherweise stellen diese keine Gefahr mehr für die Patienten dar, das „sie aufgrund der Therapie vorgeschädigt sind und daher keine Autoimmunantwort auslösen können“.

Derzeit ist diese Therapieform bis auf wenige Länder (wie Russland, Israel oder Mexiko), weltweit nicht zugelassen, weil dafür Phase-3-Studien fehlen. Roland Martin, der kürzlich emeritiert ist, führt einige Gründe auf:

  1. Es mangelt an finanziellen Mitteln, da eine Phase-3-Studie mit einer großen Patientenzahl (150-200) sehr teuer ist.
  2. Für Pharmafirmen lohnen sich solche Studien nicht. Sie kosten mehrere 100 Mio. Euro, und die eingesetzten Medikamente sind nicht mehr patentgeschützt. Das heißt, die Pharmafirmen können kein Geld daran verdienen.
  3. Sterberisiko: Eine Stammzellentransplantation ist laut Martin eine radikale Therapieform, denn das eigene Immunsystem wird dabei zerstört.

Zu Beginn dieser Behandlungsmöglichkeit war die Sterblichkeitsrate1 höher. Sie lag im Jahr 2000 bei sieben Prozent und ist 2016 auf 0,2 Prozent gefallen.

Es gibt spezialisierte Zentren, die außerhalb von Studien Stammzelltransplantation bei MS-Patienten durchführen. Von den weltweit 2500 dokumentierten Fällen2 im europäischen Stammzelltransplantationsregister (European Society for Blood and Marrow Transplantation, EBMT, 1995-2021) fanden 1721 in Europa statt, 57 davon in Deutschland. Diese niedrige Zahl, vermuten Experten, ist darauf zurückzuführen, dass die Krankenkassen die Kosten nicht übernehmen – obwohl die aktuelle MS-Leitlinie dieser Behandlungsart ein großes Potenzial zuspricht.


1Muraro PA et al. Autologous haematopoietic stem cell transplantation for treatment of multiple sclerosis. Nat Rev Neurol. 2017;13(7):391-405

2Muraro PA et al. Autologous haematopoietic stem cell transplantation for treatment of multiple sclerosis. Nat Rev Neurol. 2017;13(7):391-405

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