Neandertaler: Frauen verließen ihre Geburtsorte

Forscher haben das Erbgut von Neandertalern aus einer Höhle in Westsibirien analysiert.
Ein Vater mit seiner Tochter: Mit der Analyse von Knochenresten konnten Wissenschaftlerinnen die Familienverhältnisse einer Neandertaler-Gemeinschaft in der Chagryskaya-Höhle in Südwestsibirien aufklären.
Illustration: Tom Bjorklund

Neandertaler: Frauen verließen ihre Geburtsorte

20.10.2022

Die Verwandtschaftsverhältnisse von Neandertalern zu klären, ist aufgrund der geringen Zahl an Erbgut nicht so leicht. Ein internationales Forscherteam hat einen der größten altsteinzeitlichen Funde mit Knochenfragmenten in einer Karsthöhle in Südwestsibirien analysiert und erstmals Einblicke in das Familiengefüge gewonnen: Es waren die Frauen, die ihre Geburtsorte verließen, um in anderen Gemeinschaften zu leben.

Die Neandertalergemeinschaft, deren Erbgut untersucht wurde, lebte vor 54.000 Jahren in der Chagyrskaya-Höhle an den westlichen Ausläufern des Altai. An diesem Ort finden seit 2007 unter der Leitung des Instituts für Archäologie und Ethnographie der Russischen Akademie der Wissenschaften archäologische Ausgrabungen statt.

Die Forscherinnen fanden dort nicht nur hunderttausend Steinwerkzeuge und Tierknochen, sondern auch mehr als 80 Knochen- und Zahnfragmente von Neandertalern. Damit enthält diese Karsthöhle in Südwestsibirien weltweit die größte Zahl an Überresten dieser ausgestorbenen Menschenart.

Chagyrskaya-Höhle ist eine im Süden von Westsibirien, in den westlichen Ausläufern des russischen Altai gelegene Karsthöhle.
Die 2007 entdeckte Chagyrskaya-Höhle ist die fundreichste altsteinzeitliche Fundstätte dieses Hochgebirges. Dort lebte die Neandertalergruppe, deren Erbgut untersucht wurde.
Foto: Bence Viola

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, haben aus den Knochenresten die DNA sequenziert und das soziale Gefüge der Neandertalergruppe aufgeklärt.

Wie sie nun im Fachblatt Nature berichten, stammten 17 der Knochenreste von 13 Neandertalern, acht davon waren Erwachsene und fünf im Kindes- bzw. Jugendalter. Darunter befand sich ein Vater und mit seiner jugendlichen Tochter sowie Verwandte zweiten Grades: ein kleiner Junge und eine Frau. Das könnte, mutmaßen die Wissenschaftler, die Cousine, Tante oder Großmutter des Jungen gewesen sein.

Vielfältigeres mütterliches Erbgut

Bei solchen Untersuchungen spielt das mitochondriale Erbgut (mtDNA) eine besondere Rolle, denn dieses wird nur von der Mutter an die Nachkommen vererbt. Bei den Überresten der Neandertalergemeinschaft enthielt die mtDNA mehrere sogenannte Heteroplasmen, also genetische Varianten, die nur über wenige Generationen hinweg bestehen bleiben. Anhand dieses Merkmals schlossen die Forscher, dass die in der Höhle gefundenen Individuen zur gleichen Zeit gelebt haben.

„Dass sie zur gleichen Zeit gelebt haben, ist für uns sehr aufregend, denn das bedeutet, sie gehörten möglicherweise der gleichen sozialen Gemeinschaft an. So können wir zum ersten Mal mithilfe der Genetik die soziale Organisation einer Neandertalergruppe untersuchen“, sagt Erstautor Laurits Skov.

Den Autorinnen fiel außerdem die geringe genetische Vielfalt innerhalb dieser Gemeinschaft aus, in der vermutlich zehn bis 20 Menschen lebten. Das sei im Vergleich zu anderen heutigen oder anderen früheren Gemeinschaften eine geringere Zahl an Individuen. Demnach ähnele ihre Gruppengröße Arten, die vom Aussterben bedroht seien.

Männer blieben ortsfest

Die Analyse des Y-Chromosoms, das vom Vater zum Sohn vererbt wird, zeigte im Gegensatz zur mtDNA der Mutter eine geringe genetische Vielfalt auf. Das bedeutet, dass in erster Linie die Frauen ihre Geburtsgruppen verließen und mit anderen Gemeinschaften zusammenlebten, während die Männer in der Gruppe des Vaters blieben. Die Neandertaler-Gemeinschaften waren also in erster Linie aufgrund des Ortswechsels von Frauen miteinander verwandt.

„Unsere Studie zeichnet ein ganz konkretes Bild davon, wie eine Neandertalergemeinschaft ausgesehen haben könnte“, meint Benjamin Peter, Mitautor und Evolutionsgenetiker am Leipziger Max-Planck-Institut. „Das lässt mir die Neandertaler viel menschlicher erscheinen.“

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